Ich, Wunderwerk und How much I love disturbing content

” Das geht durch Mark und Bein, nicht, weil es so dumm ist, sondern weil es so wahr ist.”
Nachtkritik.de zur Aufführung

Auf flimmernden Bildschirmen verschiedenster Größe sind sie dauerhaft präsent: die bewegten Momentaufnahmen und verstörenden Inhalte. Aufnahmen von Protesten in weit entfernten Ländern und der Zoom auf den sterbenden George Floyd. Die Geiselnahme von Gladbeck ereignet sich vor laufenden Kameras und gelangt ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik. Ein grobkörniges Video zeigt eine Weihnachtsfeier und enthält Hinweise auf dunkle Familiengeheimnisse. Niemand muss mehr hinaus in die Welt, dank der Medien kommen die Bilder zu jedem nach Hause. Aus Handelnden werden Konsument*innen des Visuellen.

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Die junge Autorin Amanda Lasker-Berlin hat einen dichten Theatertext über die Macht der technisch reproduzierten Bilder geschrieben. Sie lässt verschiedene Stimmen von Sehwelten berichten, die dauerhafte Eindrücke hinterlassen und die Wahrnehmung der Welt entscheidend beeinflussen.

Unprätentiös und doch so tief, erschütternd, aufrüttelnd – es gibt Stücke, die machen etwas mit dir. Worte, die jeden Tag neue Bilder wachsen lassen, neue Gedanken werden geboren. Bleibende Visionen, die in der Seele mäandern und dich mit Inspirationen fluten. Als wäre man ein Stück näher an die absolute Wahrheit herangerückt.

(Movie)

Und wie das Ensemble da in diesen Szenen am Bühnenrand steht, hinter einer riesigen Gaze, von hinten beleuchtet und schattiert (Licht: Eduard Joebges), um sie herum Bühnennebel – das hat natürlich Symbolkraft, weil es jene Anonymität transportiert, die zum Problem werden kann, wenn es um kollektive Zeug:innenschaft geht. Eine Anonymität, die hemmt, die das Verantwortungsgefühl reduzieren und dazu verleiten kann, sich in der Menge zu verstecken. … In Marlene Anna Schäfers Inszenierung werden diese Erzählstränge eng miteinander verwoben, was gleichermaßen logisch wie herausfordernd ist. Angesiedelt ist das Bühnengeschehen in einem 90er-Jahre-Wohnzimmer: Ledercouch, Zigaretten-Qualm, ein Plastik-Weihnachtsbaum und in der Ecke ein Spielzeugauto, das als Gladbeck-Miniatur fungiert (Bühne und Kostüme: Christin Treunert). …  Es ist noch mal ein sehr starker Moment zum Abschluss des Abends, der wichtige Fragen unserer Zeit stellt… 

(die deutsche bühne)

 

Diese vier Erwachsenen sind monströs in ihrem Lachen. Die Schauspielerin Emilia Haag filmt sie schräg von unten mit dem Handy. Sie starren auf uns herab, hahahaha, als hätten wir etwas unglaublich Dummes getan. Sie füllen mit ihren verzerrten Gesichtern die komplette halbtransparente Gaze-Fläche, die in den Aachener Kammerspielen Publikum und Bühne trennt, übergroß und unberechenbar aus Kindersicht, aus unserer Sicht.

Nach ein paar Sekunden Schockstarre dreht sich die Kamera dann aber zum Glück trotzig weg von der weihnachtlich angeheiterten Familie. Sie fixiert erst mal Ochs und Esel, wankt dann im Kleinkinder-Seeleute-Gang weiter zum Sofa, blickt tief in die fast leere Erdnussflips-Schale tappt weiter und findet irgendwo hinter den Weihnachtsbaum ein Spielzeugauto aus den 80ern. Das parkt da so verloren und schief, als hätte jemand Gladbeck gespielt, und die Karre nach dem blutigen Ende der Geiselnahme am Autobahnrand vergessen. 

So oder so ähnlich funktioniert Erinnerung, oder funktioniert eben nicht: Sie wirft auf der einen Seite assoziativ Bilder zusammen, die nicht zusammengehören. Und sie weigert sich auf der anderen, eins und eins zusammen zu zählen, weil das schlicht zu weh tun könnte. So oder so ähnlich so funktioniert auch das Stück “Ich, Wunderwerk und How much I love disturbing content” …Die plötzliche kognitive Dissonanz, der beißende Widerspruch zwischen warmer Erinnerung und dokumentierter Gewalt, entlädt sich in einem hilflosen, wunderbar irrationalen Forderungskatalog, den Tina Schorcht sich von der Seele brüllt: Wenn dokumentarische Filmbilder so weh tun, dann gehören sie verboten, das ist in etwa die Kurzfassung des minutenlagen Ausbruchs. Und weil das weder Täter:innen noch Opfer verschwinden lässt, gehören diese eben auch verboten. “Ich fordere die absolute Teilnahmslosigkeit”, lautet ihr Fazit. Das geht durch Mark und Bein, nicht, weil es so dumm ist, sondern weil es so wahr ist. Weil das bis dahin kluge, aber nicht auffallend tiefgründige Stück, dem Publikum hier final den Boden unter den Füßen wegzieht, indem es jenes Prinzip auf die Spitze treibt, nach dem wir sehr leben: Wissen, und nichts oder wenig tun, Zeug:innen sein, und die Aussage verweigern, das Grauen konsumieren, und es ausblenden im gleichen Atemzug. 

(nachtkritik.de)

 

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  • Theater Theater Aachen
  • Regie Marlene Anna Schäfer
  • Bühne und Kostüm Christin Treunert
  • Dramaturgie Reinar Ortmann
  • Fotos Carl Brunn
Ich, Wunderwerk und How much I love disturbing content
Premiere in der Kammer des Theater Aachen am 11.. November 2022. Probenfoto. Ensemble.
Premiere in der Kammer des Theater Aachen am 11.. November 2022. Probenfoto. Ensemble.
Ensemble.
Premiere in der Kammer des Theater Aachen am 11.. November 2022. Probenfoto. Ensemble.